Die sehende Sintiza. Buchela - Pythia von Bonn

Buchcover Sintiza Am Tag, als ihr Bruder Anton stirbt, bringen zwei Schutzmänner Buchela in das Waisenhaus der Borromäerinnen. »Du bist also die Margaretha.« Das Mädchen sieht die Oberin nicht an. Es spielt mit Fäden, die sich aus dem abgestoßenen Bündchen der roten Männerjacke gelöst haben, die es trägt. Buchela schweigt. Dann aber schüttelt sie vorsichtig den Kopf. »Was heißt das?«, forscht die Oberin nach. »Margaretha ist ein guter Christenname. Hier bist du Margaretha, wie es in deiner Taufurkunde steht. Hast du gehört?« Buchela reißt mit einem Ruck die Fäden von ihrer Jacke ab und beginnt zwischen den Fingern eine kleine Kugel daraus zu rollen. »Gib her.« Die Oberin hält ihre Hand vor Buchela auf. Das Mädchen reagiert nicht. Da ergreift die Schwester ihre Hand, öffnet die Finger gewaltsam und nimmt das Fadenknäuel heraus. »Hast du gehört?«, fragt die Oberin eindringlicher.

Das Mädchen blickt weiter auf die Holzdielen, bewegt aber den Kopf ein wenig, so dass die Oberin es als Nicken nimmt. »Dann kannst du jetzt mit Schwester Benedicta gehen. Ich hoffe, dass du dich bei uns bald einlebst und aufhörst so verstockt zu sein.« Sie kommt also nicht zurück zu Mama und Tatta*? Buchela blickt auf und wendet der Oberin ihr Tränen verschmiertes Gesicht zu. Sie sieht unter den großen weißen Flügeln der Haube ein kleines, verhungertes Exengesicht. Große Augen, eine mächtige Nase, aber einen kleinen Mund, der in einem Netz von Falten, die auf die schmalen Lippen zulaufen, gefangen ist. Ledern spannt sich die Haut über den Wangenknochen. (*Papa)

Deshalb ist sie schon mit leerem Eimer zurückgekommen, hat sich einfach nicht getraut, ihn ins dunkle Wasser zu tauchen. Aber dann setzt es was. Manchmal hilft ihr Anton. Anton hat sie beschützt. Auch wenn sie träumt und vor sich hinmurmelt am hellen Tag und ihr die Mutter deshalb eine Ohrfeige gibt: »Dass du nur aufwachst.« »Lass sie«, sagt Anton dann. »Lass sie, sie tut doch nichts.« Jetzt gießt Buchela vorsichtig Wasser aus einem Krug in die abgestoßene‚ weiße Emailleschüssel. Es ist klar. Sie füllt ihre Hände damit, betrachtet es. Dann klatscht sie sich das Wasser ins Gesicht. Wieder und wieder taucht sie ihre Hände in die Schüssel und füllt sie. Sie kann gar nicht aufhören damit, bis Schwester Benedicta sie an der Schulter berührt und ihr ein dünnes Tuch in die Hand drückt.

»Das ist dein Haken, direkt neben der Tür. Wecken ist um fünf. Du gehst in den Waschraum und stellst dich an, damit du nicht ungewaschen zum Gottesdienst kommst. Der beginnt um halb sechs. Danach ist Frühstück und dann gehst du in den Unterricht. Du musst den Zeitplan genau einhalten.« Buchela sieht in das volle rote Gesicht von Schwester Benedicta. Ihr Blick bleibt an den Augen hängen, über die sich rosige Säckchen wie kleine, weiche Kissen auf die Lider herunterwölben. Buchela nickt, obwohl sie nicht weiß, was sie tun soll. Die Augen der Schwester sind freundlich, die Kissen darüber ganz weich. Buchela kennt die Uhr nicht. Sie kennt aber Jungen, die ihr hinterher gerannt sind und Steine nach ihr warfen. Die Jungen mit Ledertaschen auf dem Rücken kamen aus der Schule. Buchela mit dem Holzbündel unterm Arm kam aus dem Wald. Die Steine haben sie nicht getroffen, weil sie laufen kann wie ein Hase und Haken schlagen. Jetzt soll auch sie in die Schule, soviel hat sie verstanden.

Ich bin nicht Margaretha, will das Mädchen sagen. Ich bin Buchela. Schließlich ist sie unter einer Buche geboren. Aber das kann sie der Oberin nicht erzählen, denn sie hat beschlossen, keinen Mucks zu sagen.

 

Monika Littau
Die sehende Sintiza. Buchela - Pythia von Bonn
Rhein Mosel Verlag, 2020 | www.r-m-v.de
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